Social Media, ein Mikro- oder ein Makrophänomen?

Heinz Wittenbrink schreibt in seinem Blog zum Thema Soziale Medien und Theorien unter dem Titel „Eine Soziologie der Ansteckung“:

Die These, die ich formulieren möchte, ist: Soziale Medien stehen zu Massenmedien in einer ähnlichen Beziehung wie die Sozialtheorien in der Tarde/Garfinkel/Latour-Tradition zu denen der Durkheim/Parsons/Luhmann-Tradition.

Generell sehe ich im Web bzw. in der Analyse der Social Media immer tendenziell die Interaktionstheorien, im Sinne sozialwissenschaftlicher Mikrotheorien, die sich auf die Perspektive einzelner Akteurinnen und Akteure fokussieren. Auch die von Wittenbrink und Ausserhofer auf der re:publica präsentierte Web-Literacy-Modellierung versucht – in der Tradition Garfinkels Ethnomethodologie – auf der intersubjektiven Ebene Handlungstheorien zu generieren, nimmt also eine Mikroperspektive ein.
Oben zitierte These setzt nun die „social Media“ pauschal mit diesen Mikrotheorien gleich, um die makrosoziologischen Ansätze – so interpretiere ich das Namedropping „Durkheim/Parsons/Luhmann“ – mit Massenmedien gleichzusetzen. Zunächst einmal ist es schwierig nachzuvollziehen warum Medien, oder Cluster von unterschiedlichen Kommunikationskanälen nach kommunikationswissenschaftlicher Typologisierung in „Massenmedien“ und „soziale Medien“ nun mit verschiedenen Theoriekonzepten in Analogie gesehen werden können. Mir erschliessen sich die Parallelen nicht. Das liegt möglicherweise in meinem Nichtwissen über die Theorien Tardes.

Ich denke, dass es schon an den Definitionen von „Sozialen Medien“ beginnt, denn hier werden Äpfel mit Birnen in einen Topf geworfen. (Leider nicht anschließend vergoren und destilliert, was man gerade in der Steiermark wirklich in hervorragender Qualität vermag).
Analysiert man so etwas wie ein „Targeting“ der Kanäle, so kann man grosso modo schon behaupten, Massenmedien wären tendenziell „unguided missiles“, im Gegensatz dazu ist Kommunikation im „Sozialen Netz“ sehr individualistisch und oftmals 1:1 Kommunikation, das allerdings ist das Telephon auch.
Grundsätzliche Probleme bereitet oft, dass Makrotheorien ohne das Individuum per se auskommen können und daher auch für theoretische Perspektiven unbrauchbar sind, die nicht auf EinzelakteurInnen abstellen. Nicht umsonst versteht man Luhmann schwer, wenn Systeme nur aus innen und außen bestehen, und das Innen durch Kommunikation definiert wird.

Ich weiß nicht, ob das auch für die methodologischen Ansätze von Heinz Wittenbrink gilt, für meine Sozialkonstruktion war für das Mikro-Makro-Dilemma das Bourdieusche Konstrukt immer sehr kommod, der ja über den Habitus die Makrophänomene der Gesellschaft mit den Mikrophänomenen der Akteurinnen zu verknüpfen wusste und damit zu einer durchaus praktikablen und verständlichen Sozialtheorie beigetragen hat.

reflexive Moderne

Zusätzlich glaube ich, da bin ich ganz bei Lyotard, dass in Bezug auf die Sozialtheorien die „großen Erzählungen“ vorbei sind, und auch für die Analyse der sozialen Medien neuere Sozialtheorien Fuß fassen müssen. Warum also nicht Anleihe bei Ulrich Beck oder Anthony Giddens nehmen, um diese Phänomene als Indikatoren eines sozialen Wandels zu deuten? Diese sozialen Medien stellen sich für mich als Kanäle der radikalen Moderne dar, sozusagen der nachhinkende kommunikative Wandel, der nach dem Zerfall der autokratischen Machtstrukturen, der traditionellen Familien und dem Einfluss der Religion nun die Sozialstruktur penetriert.

Die radikalisierte Moderne: Weg von uniformen Wertvorstellungen hin zu anderen Lebensformen, die Fragmentierung, Unterschied und Kombinationen verschiedener Werte in den Mittelpunkt des Alltags stellen – das Ende von althergebrachten Begründungen und Legitimationen von gesellschaftlichen Werten, wissenschaftlicher Richtigkeit, althergebrachter Politik und der Existenz jedes einzelnen Menschen verweist die Individuen mehr und mehr auf sich selbst.

Vielen Dank an Heinz Wittenbrink, der mich erst durch seinen Blogpost dazu motiviert hat, es ihm gleich zu tun und lose Gedanken einmal schriftlich zusammen zu fassen, um diese später vielleicht in wissenschaftlichere Form zu bringen.

3 Kommentare

  1. Danke für die Kritik! Ich habe lange gezögert, meinen Blogbeitrag überhaupt zu publizieren, weil es so vag ist. Deshalb freue ich mich besonders über die Reaktion, die ihn deutlicher zu einem vorläufigen Gesprächsbeitrag macht.

    Die Analogie zwischen Theoriekonzepten und Medienformaten ist etwas, das ich zunächst nur feststelle – ich bin auch nicht sicher, was aus dieser Feststellung zu machen ist, wenn sie sich überhaupt aufrechterhalten lässt. Der negative Teil dieser Analogie bezieht sich auf die implizite oder explite Kritik der sozialen Medien (bzw. vieler ihrer Macher und Befürworter) an den Massen- oder Mainstreammedien einerseits und die Kritik an Soziologien, die die Gesellschaft als einen eigenen Seins- oder Gegenstandsbereich verstehen, andererseits. Hier erzeugen die Mainstreammedien ein vorgeblich wahres Bild der Gesellschaft, dort wird die Gesellschaft als Ganze oder das Soziale zum Gegenstand von Forschung und Theorie. Der positive Teil der Analogie bezieht sich auf die Beziehung zwischen Mikro- und Makroebene. Sowohl bei den sozialen Medien (und speziell da, wo bei ihnen Daten generiert werden, z.B. beim social Grapg) als auch in der soziologischen Tradition, die sich auf Tarde und Garfinkel beruft, besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen der Makro- und der Mikroebene, und die Makroebene wird nicht durch Generalisierung gewonnen, die Mikroeben ist nicht einfach Repäsentantin der Makroebene. Ob das mehr ist als eine Analogie oder Homologie, kann ich nicht sagen.

    Ich werde versuchen, dem weiter nachzugehen, vor allem indem ich mich mit den Texten Latours über die Statistik bei Tarde beschäftige. Ich bin noch nicht so weit, dass ich sagen könnte, ich hätte einen methodologischen Ansatz. Ethnomethodologie und Actor-Network-Theorie interessieren mich vor allem als Ansätze, die „technische“ und die „soziale“ Seite der sozialen Medien zusammen in den Blick zu bekommen.

    Ich bin tatsächlich sehr skeptisch bei den „großen“ Theorien über gesellschaftlichen Wandel – obwohl sie mich interessieren. Ich glaube, dass man sie tatsächlich nur über generalisierung von Teilbeobachtung bekommen kann.

    Ich weiss nicht, ob das eine befriedigende erste Antwort ist. Ich hoffe, jedenfalls, wir können das Gespräch fortsetzen.

  2. Danke für die Antwort. Ich sehe jetzt schon klarer und denke ich kann mir vorstellen, worauf Du hinaus willst.
    Wenn ich das Makrosoziologisch – nicht ohne auf Bourdieu zu vergessen – paraphrasieren darf: Der gesamtheitliche und normative Aspekt der (monodirektionalen) Massenmedien, der die Illusio der gesellschaftlichen Orthodoxie im Sinne „geronnenen Strukturen“ perpetuiert und damit zur Stabilisierung bestehender Machtstrukturen dient steht im Gegensatz zur prozessualen und interaktionistischeren Nutzung der sozialen Medien, hier tritt die Illusio nur über die habituellen Vernetzungen der Akteure ins Spiel, die Mediennutzung wirkt daher subjektiv „offener“ und „freier“.

  3. Ich kenne wiederum Bourdieu zu wenig, um sagen zu können, ob sich deine Interpretation mit dem deckt, was ich sagen will.

    Was ich meine, geht vor allem auf Latours Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaf zurück. Darin kritisiert Latour znächst ausführlich die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft als einem Seinsbereich mit eigenen Gesetzen. Er setzt ihr eine Soziologie entgegen, die sich mit Vergesellschaftung als Vernetzung von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren bechäftigt. Dann kommt er auf die übliche soziologische Forschung mit ihren quantitativen Methoden zurück und stellt dar, wie sie Vergesellschaftung vornimmt. Man könnte vielleicht sagen, dass sie die oder eine Makroebene mitproduziert.

    Eine ähnlich Gedankenfigur findet sich in Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen. Darin wird das Konzept des _homo oeconomicus_ und spezifisch wirtschaftlicher Gesetze kritisiert. Zugleich sagt Latour, dass diese Konzepte sehr wohl von den Ökonomen praktisch durchgesetzt wurden, etwa durch die Durchsetzung der Buchhaltung.

    In einem ähnlichen Sinn kann man vielleicht sagen, dass die Massenmedien Gesellschaft oder die Makroebene produzieren und dabei ähnlich arbeiten wie die Sozialwissenschaft. Damit ist nicht gesagt, dass dabei Illusionen erzeugt werden.

    Ich muss das selbst noch einmal durchdenken. Im Moment sind das für mich Überlegungungen beim Einarbeiten in die Akteur-Netzwer-Theorie. Dein Bild von der fehlenden Gährung ist gar nicht so unpassend 😉

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